
Mit magischen Berührungen in verschlossene Welten vordringen
Manchmal verlieren Menschen Kontakt. Zur Außenwelt, aber auch zu eigenen Erinnerungen. In ihren Pflegeeinrichtungen testet die AWO Weser-Ems bereits seit einigen Wochen ein neues außergewöhnliches Instrument, mit dem die Verbindung insbesondere zu Bewohner*innen mit Demenz oder anderen Einschränkungen hergestellt werden soll – und dies gelingt mit durchaus beachtlichem Erfolg.
Ein einfaches Handauflegen genügt – und alles wird gut? In gewisser Weise schon. „Es ist ein ganz tolles Instrument, um nonverbal mit Menschen in den Austausch zu kommen“, sagt Nicole Poets. Sie koordiniert im Emder Gezeitenhaus der AWO den Sozialen Dienst und testet hier aktuell das „Crdl“ (ausgesprochen: Cradle – dt.: Wiege). Dabei handelt es sich um ästhetisch schlichtes Holzobjekt, das sich die Leitfähigkeit des menschlichen Körpers zunutze macht, um Klänge zu erzeugen. Was technisch kompliziert klingt, ist in der Nutzung denkbar leicht, ja schon intuitiv: Zwei Menschen legen jeweils eine Hand auf das Crdl, berühren mit der anderen dann einander. Je nach Kraftaufwand, Rhythmus und Bewegungsart – streichelnd, klopfend, drückend, tastend – spielt es dann Töne, Geräusche oder gar Melodien aus verschiedenen Klangwelten aus. „Es gibt gleich bei der ersten Berührung und den damit verbundenen Geräuschen einen Wow-Effekt, der sofort Nähe schafft und eine positive Verbindung herstellt“, so Poets. Wirkung zeigt dies auch bei Menschen ohne kognitive Einschränkungen.
Beate Matthes ist 98 Jahre alt, wohnt seit einigen Jahren im Gezeitenhaus. Ein Instrument wie das Crdl hat die musikalische Dame noch nie zuvor gesehen. Und so kühl sie beim Aufeinandertreffen mit Nicole Poets anfangs auch wirkt, so rasch lockern sich Gesichtszüge und Zunge bei den ersten gemeinsam erzeugten Klängen. Mit einem vorsichtigen Streicheln über Poets‘ Arm fährt schlagartig ein Zug durch ihr Zimmer, ein sanftes Klopfen aufs Handgelenk lässt Vögel zwitschern – und ihre Augen strahlen. Dann prasselt Regen trocken auf sie hernieder, das Meer unter ihren Füßen rauscht, Wellen schlagen an. Es raschelt und knistert, es knarzt und quietscht. In der Ferne läuten schwere Glocken. Gefragt nach dem, was sie hört, muss Matthes erst tief in Erinnerungen kramen. Einige sind nicht ganz richtig, andere dennoch schön. Und plötzlich sind Bilder in ihrem Kopf. Matthes beginnt zu erzählen. Zu träumen. Zu singen – Lieder aus der schlesischen Kindheit, die längst vergessen schienen. Und plötzlich nutzt sie die Finger von Poets als Klaviertasten, spielt auf ihrer Hand ganz eigene Melodien. Ein Moment, der Gänsehaut erzeugt. Und vielleicht ja auch ein kleines bisschen Magie. Dieses Erleben und diese Form der scheinbar inneren Befreiung sind „genau das, was wir uns als Wirkung erhoffen“, sagt Nicole Poets, „das Gehör als Schlüssel zu den Erinnerungen – und die Berührungen als Brücke zur Beziehung.“
Im aufreibenden Pflegealltag und neben der ohnehin zugewandten Versorgung ist das Crdl eine sinnvolle Ergänzung für ein wertschätzendes Miteinander auf Augenhöhe. In Emden und bei vorherigen Stationen hat das Instrument bereits mächtig Eindruck hinterlassen, dennoch wird es in den kommenden Monaten auch von und in weiteren Einrichtungen getestet.