Ein Traumjob - trotz aller Herausforderungen
Angst vor einem Rosenkrieg oder Fragen zur Sexualität? Gibt es einen Kinderwunsch oder vielleicht Probleme in der Schwangerschaft? Und wie können Familienstreitigkeiten beigelegt, wie der eigene Nachwuchs von Sorgen befreit werden? Rund 25.000 Gespräche und Hilfestellungen dürften es sein, die in den vergangenen 50 Jahren von der Oldenburger AWO Familienberatungsstelle geleistet wurden.
„Aller Anfang ist schwer“, heißt es im ersten Jahresbericht der Beratungsstelle, damals noch am Flötenteich in direkter Nachbarschaft zum bis heute existierenden AWO Sprachheilkindergarten beheimatet. Und: „Wir kamen uns anfangs vor wie ein Nichtschwimmer, den man ins tiefe Wasser wirft“, ist darin vermerkt – Grund dafür sei das zunächst fehlende fachlich-inhaltliche Konzept gewesen, das von den Beteiligten überhaupt erst ausgestaltet werden musste. Das war 1975.
Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist das alles im wahrsten Sinne Geschichte. Die Familienberatungsstelle ist aus dem Stadtsüden nicht wegzudenken, als Institution aus der sozialpädagogischen Landschaft genauso wenig. Wie viel Druck die Mitarbeitenden der Beratungsstelle – von der Teamassistenz bis zum Fachteam – mit ihrer Unterstützung nicht nur von einzelnen Personen, sondern damit zugleich aus der Oldenburger Gesellschaft nehmen, ist schwer zu ermitteln. Insbesondere mit dem Wissen, dass jedes Schicksal, all die menschlichen Abgründe hinter den oftmals so dringend nötigen Beratungsgesprächen, auch die Beratenden selbst nachhaltig berühren. „Aber, wenn wir es gemeinsam gut machen und Hilfe leisten können, dann bekommen wir auch viel Positives zurück“, sagt Anke Cassens-Jürgens. Die Oldenburgerin ist seit Mai neue Leiterin der hiesigen Familienberatungsstelle, bei der AWO und auch in der Beratung aber ein echtes Urgestein. Nun aus Leer kommend, bringt Cassens-Jürgens ihre Erfahrungswerte vor Ort mit ein.
„Meine berufliche Karriere hatte ich mit einem Freiwilligen Sozialen Jahr bei der AWO begonnen, damals im Wohnheim in Rastede“, sagt die heute 62-Jährige, „damals habe ich schon die ersten menschlichen Krisen erlebt – und damit umzugehen gelernt.“ Es folgten unter anderem Stationen als Krankenschwester und parallel ein Psychologie-Studium, im AWO Beratungs- und Therapiezentrum Leer war Cassens-Jürgens zudem seit den frühen 2000ern ganz nah am Menschen, den großen wie den kleinen. Seit 2009 dann auch in leitender Funktion.
Die Beratung hier ist kostenfrei, alle Gespräche – ob mit Kindern, Jugendlichen oder Erwachsenen, vielleicht auch ganzen Familien – unterliegen zudem der Schweigepflicht. Das ist sicherlich einer, aber nicht der Hauptgrund für die enorme Beratungsfrequenz und auch längere Wartelisten hier an der Cloppenburger Straße. Das multidisziplinäre Fachteam aus Psycholog*innen, Pädagog*innen, Sozialpädagog*innen und Sozialwissenschaftler*innen mit vielfältigen Zusatzqualifikationen in Therapie und Beratung muss sich oftmals mit Multi-Problemlagen beschäftigen. Das war offenbar schon 1975 so, wie es der damalige Jahresbericht auswies: „Zugleich wird ersichtlich, dass entgegen den laienhaften Vorstellungen eine psychologische Behandlung nicht mehr mit 2-3 Kontakten auskommt. Auch wenn die festgestellte Symptomatik beim Kind schon lange beseitigt ist, bedarf es in den meisten Fällen langandauernde Gespräche mit den Eltern, um bei ihnen diejenigen eingefahrenen Erziehungsverhaltensweisen zu ändern, die für die Entstehung eines Symptoms verantwortlich waren und im Falle einer fehlenden Modifikation wieder sind.“
Hatte sich die Gesellschaft über Jahrzehnte immer fortschrittlicher und offener entwickelt, erleben die Mitarbeitenden der Beratungsstelle schon seit einiger Zeit einen besorgniserregenden Wandel. Einen, der hart erkämpfte Werte wie Solidarität und Inklusion infrage stellt – und damit auch vermehrt für Probleme sorgt. „Über 83 Prozent der Belastungen der Kinder ergeben sich aus Problemlagen und Kompetenzen der Eltern“, so der jüngste Jahresbericht. Familiäre Konflikte werden hinausgetragen, Trennung, Scheidung, Umgangs- und Sorgerechtsstreitigkeiten, aber auch Unsicherheiten in der Erziehung verschärfen die Lage. „Eine komplexe und schneller werdende Lebenswelt trägt hier mutmaßlich zu Überforderung und Unsicherheit bei“, wie es heißt.
Cassens-Jürgens sagt: „Es ist nicht immer nur das individuelle Schicksal, sondern es sind häufig auch die Strukturen, die es schwermachen. Ich sehe da auch die politische Dimension in meiner Arbeit. Wir lassen alle Hilfesuchenden zu Wort kommen, ver- und urteilen nicht, sind offen für Schilderungen, die uns jemand anvertraut“, sagt Cassens-Jürgens. „Wir erarbeiten dann gemeinsam mit den Ratsuchenden, welche Strukturen sie belasten und ob es Möglichkeiten gibt, diese zu verändern.“
Und dazu gab es im vergangenen Jahr mehr als genug Anlässe – gleich 385 Mal allein in der Familien- und Erziehungsberatung. Darüber hinaus waren 286 Frauen und Männer in der Schwangerschafts- und Schwangerschaftskonfliktberatung. Auch hier handelt es sich um Problemlagen, die nicht mit zwei, drei Gesprächen gelöst sind. Aber: In den meisten Fällen werden sie gelöst. Die Herausforderungen sind vielfältig, die Möglichkeiten zur Unterstützung sind’s allerdings auch. Es gibt überdies eine psychosoziale Kinderwunschberatung, gleichsam auch die Begleitung bei Fehl- und Totgeburten, dazu offene Sprechstunden im Stadtteiltreff für all das, was akut ein Ohr benötigt. Das Themenspektrum ist immens, zu Beginn fast immer von großer Schwere geprägt, mindestens belastend. Positiv bewegend sind indes die Enden nahezu aller Beratungsgespräche und -serien. Die Dankbarkeit ist groß, das Wissen um etwas Klärung in Köpfen und Herzen für alle Seiten heilsam.
Für Cassens-Jürgens ist es daher noch immer ein „Traumberuf“, wie sie sagt. Einer, den man nun auch mal mit den (neuen) Kolleg*innen feiern darf. Das ist am Freitag, 19. September, der Fall.